Thesen zu einer Erneuerung der Sozialdemokratie nach der Bayerischen Landtagswahl 2018
Unser Land braucht eine starke sozialdemokratische Alternative. Das Ergebnis der bayerischen Landtagswahl 2018 muss für die SPD ein Signal zum Umbruch sein. Bayern und Deutschland braucht eine starke Sozialdemokratie, damit soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Mitbestimmung in allen Teilen von Gesellschaft und Wirtschaft eine Zukunft haben.
11 Gründe, warum eine starke SPD für Bayern und Deutschland wichtig ist
Soziale Ungleichheit gefährdet die Stabilität der Gesellschaft und damit auch den Wohlstand und die Sicherheit der Wohlhabenden.
1. Die soziale Ungleichheit in Deutschland nimmt weiter zu: Inzwischen besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung ebenso viel, wie die ärmsten 88 Prozent. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung verfügt nur noch über 2,4% des Gesamtreichtums. Noch in den 1960er Jahren war es etwa ein Drittel. (Quelle: Oxfam Deutschland). Lag das Lohnverhältnis Manager:Arbeiter in Deutschland 1987 noch bei 14:1, so lag es 2006 schon bei 44:1 (Quelle OECD).
2. Seit 2004 wachsen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen in Deutschland erheblich schneller, als die Arbeitnehmerentgelte.
3. Die Armut nimmt zu: In Deutschland lebt mittlerweile jedes fünfte Kind in Armut, und etwa jedes achte Kind wächst sogar dauerhaft in prekären Verhältnissen auf. Die Wohnungslosigkeit nähert sich der Millionengrenze. Jeder zwanzigste Erwachsene arbeitet in mehreren Jobs, um über die Runden zu kommen. (Quelle: Oxfam Deutschland)
4. Die Altersarmut nimmt zu. Von Altersarmut ist in Deutschland nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes rund jeder Siebte der über 65-Jährigen betroffen. In Deutschland müssen knapp 50%, also mehr als 8 Millionen Menschen und somit fast jeder zweite Rentner, mit weniger als 800 Euro pro Monat auskommen. Ein Drittel davon sind Männer und rund zwei Drittel sind Frauen. Dass die Altersarmut in Folge von Arbeitslosigkeit und wachsendem Niedriglohnsektor in den kommenden Jahren zunehmen wird, ist sicher.
5. Die Wohnungsnot nimmt massiv zu. Mieten steigen – nicht nur in den Ballungsgebieten – weit schneller, als andere Lebenshaltungskosten. Wohnbesitz ist für die Großstädte keine Alternative: In München zum Beispiel sind die Grundstückspreise für Mehrfamilienhäuser allein im Jahr 2016 um 31 Prozent angestiegen. Von Instrumenten wie dem Baukindergeld profitieren die Ärmsten in diesen Regionen nicht.
6. Die Zahl der Leiharbeiter in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren um 43% gestiegen: Die Zahl der Leiharbeitsplätze liegt heute bei mehr einer Million. Allein vom Juli 2016 bis zum Juli 2017 stieg diese Zahl um 4%. (Quelle Bundesanstalt für Arbeit)
7. Immer mehr Arbeitsplätze fallen aus der Tarifbindung. In Bayern werden nur noch 53% aller Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt. Damit ist der Freistaat das Schlusslicht unter den westdeutschen Bundesländern.
8. Die Arbeitszufriedenheit nimmt ab: bei 78% der Arbeitnehmer hat die Arbeitsintensität in den letzten Jahren zugenommen. Im Durchschnitt aller Branchen berichten 56% der Betriebsräte, dass die Arbeitszufriedenheit gleichzeitig gesunken ist. (Quelle WSI). Die Ursachen: Fachkräftemangel, Zeitdruck, wachsender psychischer Druck.
9. Frauen sind noch immer besonders benachteiligt: bei den Gehältern, wie bei der sozialen Absicherung.
10. Unser Bildungssystem ist noch immer zu wenig durchlässig und verfestigt tendenziell soziale Ungleichheit. Kinder aus ungünstigen sozialen Schichten, die es am dringendsten brauchen, bekommen in Deutschland am wenigsten frühkindliche Bildung. Migranten in erster und zweiter Generation erreichen seltener einen höheren Bildungsabschluss als andere (Quelle OECD).
11. Mit dem Zuzug von Kriegsflüchtlingen und anderen Asylsuchenden entstehen bei nachlassendem Integrationswillen unserer Gesellschaft neue Gruppen sozial Benachteiligter. Auch der Lohndruck in prekären Arbeitsverhältnissen droht zuzunehmen.
Die sozialen Konflikte haben in Deutschland nicht erst mit der Zuwanderung von Kriegsflüchtlingen und anderer Asylsuchender zugenommen. Eine gerechte Sozialpolitik darf nicht bei den Schwächsten unserer Gesellschaft ansetzen. Vielmehr muss eine solidarische Politik alle in Deutschland Lebenden umfassen. Eine gerechte Sozialpolitik hat nichts zu tun mit der Diskussion um „offene Grenzen“ – diese können durchaus kontrovers diskutiert werden – und schon gar nichts mit der Ausgrenzung ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Eine Fokussierung auf eine gerechte Sozial- und Wirtschaftspolitik muss der Kern sozialdemokratischer Politik sein. Dieser Kern muss um eine moderne Technologie-, Umwelt- und Gesellschaftspolitik ergänzt werden.
Hinweise zur Landtagswahl 2018
Das Wahlergebnis war nicht nur in Bezug auf die dramatischen Stimmenverluste für die SPD im Ganzen überraschend. Auch die Struktur der Stimmenverluste waren so kaum vorausgesehen:
1. Wir haben weniger als befürchtet an die AfD verloren.
2. Wir haben – wenig überraschend – erheblich an die Grünen verloren.
3. Wir haben – überraschend – viele Stimmen an CSU und Freie Wähler verloren.
Ein Blick auf die Wählerwanderung (Quelle: infratest dimap, zitiert nach Zeit online):
Die SPD verliert massiv an Grün und Schwarz
Die SPD hat im Saldo (Gewinne abzüglich Verluste) 200.000 Wähler/innen an die Grünen verloren, aber auch 100.000 Wähler an die CSU und 70.000 Wähler/innen an die Freien Wähler.
Der Verlust an die Grünen überrascht kaum, angesichts dessen, dass die SPD argumentativ an die GroKo gefesselt ist und mit der Regierungsarbeit in Berlin identifiziert wird:
- Der Streit zwischen CDU und CSU beschädigt das Image der ganzen GroKo, auch der SPD. Das Stillhalten in den Konflikten zwischen Merkel und Seehofer hat der SPD nicht geholfen.
- Die zahlreichen Fehler der SPD kurz vor der Landtagswahl (z.B. Stellungnahme zum Dieselskandal, Position zur Versetzung des Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen) haben das Image der SPD schwer beschädigt.
- Die Erfolge der SPD in der GroKo wurden schlecht kommuniziert.
- Die Erfolge der GroKo in Bezug auf Umverteilung und soziale Gerechtigkeit sind nicht ausreichend, um das Image der SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit zu stärken.
Demgegenüber konnten und können sich die Grünen als starke Opposition erfolgreich positionieren.
Dass wir auch massiv an die CSU und die Freien Wähler Stimmen abgegeben haben, liegt am schwachen Profil der SPD. Unsere Kernbotschaften sind nicht nur nicht durchgedrungen, sie haben weitgehend gefehlt. Es mangelt der SPD an einer Konzentration auf ein zentrales Thema.
Die SPD verliert überproportional an Nichtwähler
Ein Hinweis auf die Unzufriedenheit vieler Wähler/innen mit der SPD ist auch, dass die SPD 3% an die Gruppe der Nichtwähler verloren hat. Die entsprechenden Verluste für die CSU lagen nur bei 2%, für die Grünen bei 0%. Dass der Anteil bei der SPD nicht noch höher ist, verdankt sich dem Umstand, dass sich Protestwähler/inne/n zahlreiche Alternativen angeboten haben. So verlor die SPD
- 2% ihrer Wähler/innen an die AfD
- 7% an Splitterparteien mit einem Stimmenanteil von weniger als 5%
Die CSU verlor 6% ihrer Wähler an die AfD, aber nur 2% an Splitterparteien.
Die SPD kann kaum Zugezogene für sich gewinnen
Von allen neu Zugezogenen wählten nur 4% die SPD, aber 19% die Grünen:
Die SPD kann kaum Erstwähler für sich gewinnen
Von allen Erstwählern wählten nur 5% die SPD, aber 17% die Grünen:
Die schwache Position bei den Jugendlichen wird gestützt durch das Abschneiden bei den zeitgleich durchgeführten „Jugendwahlen“ in Bayern:
Die Wähler/innen der SPD sterben aus
Die Wählerschaft der SPD ist ähnlich überaltert, wie die Wählerschaft der CSU. SPD und CSU haben jeweils 8% ihrer Wähler/innen durch Tod verloren, die Grünen nur 4%.
Konsequenzen für die SPD
1. Die SPD muss sich als Partei der sozialen Gerechtigkeit neu profilieren. Dies ist die Kernkompetenz der SPD – verbunden mit einer nachhaltigen Umwelt- und einer modernen und emanzipatorischen Gesellschaftspolitik.
2. Dies erfordert eine umfassende Programmarbeit und die Formulierung klarer und zum Teil auch radikaler politischer Ziele:
- Der soziale Ausgleich erfordert eine weitreichende Umverteilung von Reichtum.
- Die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse erfordert neue Anstrengungen in der Arbeitnehmermitbestimmung.
- Die Wohnungsnot wird nicht ohne grundlegende gesetzliche Reformen (Bodenreform; Eingriffe in das Eigentumsrecht) bekämpft werden können.
- Die Gesundheitsreform muss tiefgreifend sein und darf vor einer Neugestaltung des Versicherungssystems nicht Halt machen.
- Die Rentenreform muss die Lebensqualität der älteren Mitbürger/innen nachhaltig sichern.
3. Wir brauchen eine neue visionäre und realistische Reformoffensive – wie in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Soziale Gerechtigkeit ist ein Wert an sich und eine Voraussetzung für eine friedliche Entwicklung der Gesellschaft und eine erfolgreiche Bekämpfung von Rechtspopulismus und Neofaschismus.
4. Eine solche Politik ist keine traditionalistische Klassenkampffolklore. Für eine solche Politik können neben den sozial benachteiligten auch junge Menschen und intelligente Aufsteiger gewonnen werden.
5. Eine moderne Sozialdemokratie kann und muss gemeinsam mit liberalen Ökologen und modernen Konservativen gesellschaftliche Mehrheiten erringen.
6. Eine solche Reformpolitik setzt das Vertrauen in die Reformwilligkeit und -fähigkeit der Sozialdemokratie voraus.
7. In der großen Koalition ist dieses Vertrauensverhältnis nicht zu etablieren.
Dieses Diskussionspapier ist eine Momentaufnahme. Strategien und Meinungen entwickeln sich in der Diskussion. So soll es sein und so ist es gut.
Titelbild unter Verwendung von pics @ stock.adobe.com